...und an meinem Alteisen gibt es sowas wie Drehmomentangaben nicht. Da wird der Kopf per Maulschlüssel mit Muttern zwischen den Kühlrippen einfach nur festgezogen.
Gibt es an deinem Alteisen denn so etwas wie Stehbolzen, also lang und dehnbar?
Die Berechnung von Anzugsdrehmomenten ist ziemlich komplex und von vielen Unsicherheiten begleitet, die dann mit Anzugsfaktoren (Multiplikationsfaktoren zum theoretischen Wert) kompensiert werden. Dabei interessiert das Drehmoment den Konstrukteur nur am Rande. Was er stattdessen will, ist eine bestimmte Schrauben!kraft!, die ausreichend ist, die so gefügten Bauteile zuverlässig zusammen zu halten (etwa gegen den Verbrennungsdruck). Es gibt einen direkten, proportionalen Zusammenhang zwischen der Zugkraft, die in einer Schraube wirkt und ihrer Längung - und in wirklich delikaten Fällen misst man diese Längendehnung und bringt sie auf den Sollwert, gleichgültig, welches Drehmoment dafür erforderlich ist. Dann - und nur dann - hat man ein sicheres Ergebnis in enger Toleranz. Das gibt's durchaus auch im Motorenbau. Carillo Titanpleuel werden etwa so montiert. Die Methode funktioniert freilich nur, wenn die Schraube nach dem Anziehen von beiden Seiten zugänglich ist. Ist das nicht der Fall, wird die Schraube/der Stehbolzen/Zuganker hydraulisch vorgespannt, die Mutter von Hand angelegt und die Vorspannung wieder gelöst. Dann ist die Verschraubung erstens fest und zweitens auch noch frei von jeglicher Torsionsspannung. Das ist ein im Druckbehälterbau/Kraftwerksbau übliches Verfahren.
Eine Schraube kann man also als eine Zugfeder betrachten, freilich eine mit sehr hoher Federrate. Hohe Federrate heißt, dass große Kräfte nur kleine Längenänderungen bewirken. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass kleine Längenänderungen, etwa durch Setzen, große Änderungen der Schraubenkraft zur Folge haben. Das ist der Hintergrund für die oft mystisch anmutenden Rituale beim Anziehen der Zylinderköpfe. Wieviele Setzfugen sind vorhanden? Wie dick ist die Kopfdichtung? Besteht sie aus nur aus einem Weichaluminiumblech oder ist es eine komplexe Vielstoffdichtung? Ist eine Fußdichtung vorhanden? Welche Oberflächenrauhigkeit haben die Flächen in der Setzfuge und in welcher Richtung verlaufen die Bearbeitungsriefen? (Bei Bremssätteln und Bremssattelaufnahmen gibt es häufig die Herstellervorgabe, dass die Riefen konzentrisch zur Bohrung verlaufen müssen. Dort hat man ja meist kurze Schrauben, also wenig Dehnlänge, weswegen kleine Setzungen große Verluste der Schraubenkraft zur Folge haben.)
Auch noch interessant: Dreht sich im Kopf eine Nockenwelle, mehrfach gelagert und damit geometrisch überbestimmt? Deren Lagergasse muss nach dem Anziehen perfekt fluchten! (VW hatte da mal so einen Unfall, als sie aus dem 1,6l-Vierzylinder-Diesel einen 2,4l-Sechszylinder für den LT28 abgeleitet hatten. Da brachen plötzlich reihenweise die Nockenwellen.)
So viel zu delikaten Schraubenverbindungen. Für diese findet sich immer ein Anzugsdrehmoment in den Werkstattbüchern. Für alles andere finden sich allgemeine Richtwerte in irgendwelchen Tabellen - die sich häufig widersprechen, weil jeder andere Grundannahmen trifft. Für den Maschinenbauer ist die brünierte, leicht geölte Schraube der Normalfall, im Kfz-Bereich die verzinkte oder gelb-bi-chromatierte trocken, am Fahrrad gibt's fast nur noch V2a-Schrauben ... und alle haben sie unterschiedliche Reibbeiwerte. Eine eventuelle Verwendung von Loctite ändert den dann nochmal - und ob die Schraube in eine Stahlmutter oder ein Gewinde im Alublock oder -gehäuse oder -rahmen eingedreht wird, ist selbstredend auch nicht ganz unwichtig. Von Sauberkeit und Korrosion haben wir dabei noch gar nicht geredet.
Wovon wir auch noch nicht geredet haben, ist die Schraubengüte. Schrauben werden in Festigkeitsklassen eingeteilt, von 3.6 bis 14.9. Üblich ist der Bereich von 4.8 bis 12.9 und normal die Güte 8.8. Die erste Ziffer gibt die Prüfspannung geteilt durch 100 an (800N/mm²), die zweite die Streckgrenze (80% der Prüfspannung). Die Streckgrenze ist der Wert, bis zu dem die Schraube gedehnt werden kann, wenn sie nach Entlastung wieder ihre ursprüngliche Länge annehmen soll. (Ja, das soll sie immer!)
Wenn solch eine Drehmoment-Tabelle ernst genommen werden möchte, sollte sie mindestens eine Angabe enthalten, auf welche Festigkeitsklasse sie sich bezieht. Tut sie das nicht, kommt aber vielleicht direkt vom Fahrzeughersteller in dessen Reparaturanleitung, kann man immerhin durch Vergleich mit einer seriösen Tabelle (z.b. aus einem Konstruktionshandbuch) herausfinden, welche Schraubengüte der Hersteller normalerweise verwendet (meist 8.8 oder 6.8).
Festigkeitsklassen gibt es übrigens auch für Muttern, nämlich von 4 bis 14 (Prüfspannung von 400 bis 1.400 N/mm²). Das Potential einer 12.9er Schraube kann man also nur ausnutzen, wenn man sie mit einer Mutter der Güte 12 (oder besser) paart.
Der langen Rede kurzer Sinn:
1. Jed' Ding wird kompliziert, wenn man nur genau genug hinguckt.
2. Man nehme Drehmoment-Tabellen freundlich zur Kenntnis, mache aber bloß keine Bibel daraus.